Was ich noch sagen wollte

PhilPublica stellt vor

Titelbild: Elif Özmen

Elif Özmen

Professorin für praktische Philosophie an der Universität Gießen

Was ist Ihre erste Erinnerung an einen philosophischen Gedanken?

Ich erinnere mich eher an ein Staunen, das man vielleicht als philosophisch bezeichnen könnte, also als grundlegende und neugierig machende Infragestellung von Bekanntem, Bezeichnetem, mutmaßlich bereits Begriffenem. Das Kind, das ich war, liegt im Bett, schlaflos, und konzentriert sich auf den eigenen Körper, indem es dessen Ausdehnungen gedanklich „nachspürt“. Und ich erinnere mich gut an die Überraschung, die ich empfand, als mir klar wurde, dass ich noch wachsen würde und sich dann etwa meine Hände „weiter“ entfernen würden von meinem Blick auf sie. Würde das Gespür für den eigenen, aber zugleich anderen, eben gewachsenen Körper bleiben, etwa die innere Gewissheit, dass es „meine“ Hände sind?

Woran arbeiten Sie gerade?

Dem anfänglichen Staunen über personale Identität zum Trotz interessiere ich mich seit meinem Studium vor allem für die praktische Philosophie. Gerade schreibe ich an einem längeren Text über den Wert der Wahrheit und Unwahrheit für die Demokratie. Dabei ist die philosophische Frage nach Wahrheit, Lüge und anderen Täuschungshandlungen, wie Irrtum, Selbsttäuschung, Verstellung, Mimikry, Schauspiel, Ironie, bis hin zu bullshitting und fake ja keineswegs neu.

Was ist denn dann das Neue?

Mit der vielzitierten „postfaktischen Demokratie“ und „Postwahrheitspolitik“ werden bislang unbekannte Erosions- und Verfallserscheinungen diagnostiziert, nicht zuletzt eine zunehmende Akzeptanz und Folgenlosigkeit offensichtlicher Lügen und Lügner in der Politik. Solche praktisch-politischen und normativ-philosophischen Beunruhigungen sind der Ausgangspunkt für meinen Versuch, die stetig beschworene Krise der Demokratie als eine Krise der Wahrheit zu interpretieren. Und das steht erst einmal quer zur Prämisse der Unverträglichkeit von Wahrheit und Demokratie, welche den Mainstream der sozialwissenschaftlichen und philosophischen Demokratietheorien prägt. Demzufolge stünde die „despotische“ Tendenz der Wahrheit, also ihr Geltungsanspruch und ihre inhärente Kompromisslosigkeit, in einer Spannung, ja vielleicht im Widerspruch zur Demokratie, deren Modus gerade nicht Wahrheits- sondern Konsens- und Kompromissfindung sei. Dennoch möchte ich eine zunächst abwegig erscheinende Perspektive auf die normativen Konstituenten der Demokratie stärken, die das Verhältnis von Demokratie, Wahrheit und Wahrhaftigkeit mit Bezug auf ein demokratisches Recht auf Wahrheit neu austariert.

Was würden Sie gern besser können?

Segeln. Über mich lachen. Die Kunst der beharrlichen und entwaffnenden Freundlichkeit beherrschen, zudem meine zweite Muttersprache türkisch auf akademischem Niveau.

Was ist Ihr Lieblingszitat?

„Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man aufhört, daran zu glauben“ von dem sehr philosophischen Science-Fiction Autor Philip K. Dick.

Ist es immer gut, vernünftig zu sein?

Gute Güte, nein. Zum einen ist, was gemeinhin als vernünftig gilt bzw. für solches erklärt wird, nicht schon immer gut für mich in einem ethischen, das gute Leben umfassenden Sinne. Die Philosophie bemüht zwar stetig die autoritative Stimme „der“ Vernunft, um über das Gute, Wahre (und selten: das Schöne) zu reflektieren. Aber Autorität über das Gute meines eigenen unvergleichbaren Lebens gewinnt das aus der allgemeinen Vernunft abgeleitete Vernünftige doch nur durch einen Prozess praktischer Überlegung, in dem ich überhaupt erst verstehe, einordne und letztlich anerkenne, dass ich vernünftig sein und handeln will. Oder eben auch nicht. Denn es ist (und tut) doch auch ausgesprochen gut, das Unvernünftige als Möglichkeit zu erwägen, seine besondere Attraktivität zu kennen und sich ihm auch mal hinzugeben – jedenfalls solange das Unvernünftige sich nicht als schlecht für Dritte erweist.

Was ist Ihre déformation professionnelle?

Zu glauben und andere davon überzeugen zu wollen, dass es vernünftig ist, immer vernünftig zu sein.

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