Was ich noch sagen wollte

PhilPublica stellt vor

Titelbild: Nadja El Kassar

Nadja El Kassar

Gastprofessorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin

Woran arbeiten Sie gerade?

Ich überarbeite gerade meine Überlegungen zu Unwissenheit und Ignoranz, denn die Coronapandemie hat zahllose Anwendungsfälle geliefert, die Theorien der Unwissenheit meines Erachtens diskutieren sollten. Und dann überlege ich, wie wir kollektives intellektuelles Selbstvertrauen philosophisch gut fassen können. Es scheint ein spezielles Selbstvertrauen von Gruppen zu geben, dass sich darin zeigt, dass sie ihren geteilten Überzeugungen und Wahrnehmungen vertrauen. Was sind die Bedingungen für dieses kollektive Vertrauen? Und können wir feststellen, wann und warum dieses Selbstvertrauen gut ist und wann schlecht?

Was war Ihr erster Kontakt mit der Philosophie?

Zweimal Adorno in der Schule. Auszüge aus seinen musikphilosophischen Schriften in einer Musikstunde sowie seine Analyse der Donald Duck Figur im Englischunterricht. Seinen etwas trockenen Zugriff auf Musik fand ich damals spannend – heute würde ich sagen, der Zugriff ist übertrieben ernsthaft. Und ich fand es fast tragisch, dass seine eigenen Kompositionen so wenig inspirierend waren. Adornos These, dass die Comics mit Donald Duck, dem immer wieder etwas Ärgerliches widerfährt, bei dem nie alles glatt läuft, dazu dienen sollen, die Zuschauer:innen daran zu gewöhnen, dass es im Leben einfach nie glatt läuft und auch sie immer verlieren werden, erweiterte damals meinen Blick auf „die Welt“. Ich konnte danach Disney-Comics nicht mehr wie vorher anschauen. In meinem Studium habe ich dann kein einziges Adorno-Seminar besucht…

Was würden Sie gerne besser können?

Cello und Klavier spielen. (Eins von beiden würde mir schon reichen.)

Wenn Sie ein zweites Leben hätten, in dem es keine Philosophie gäbe, was würden Sie damit anfangen?

Ich würde mir eine Tätigkeit suchen, in der ich den ganzen Tag Musik hören und mich über diese austauschen kann.

Welches Vorurteil gegenüber akademischen Philosoph:innen ärgert Sie am meisten?

Dass Philosoph:innen abgehoben sind und sie sich nicht für das Leben interessieren, und keine Ahnung vom ‚echten‘ Leben haben. Mich ärgert dann aber auch sehr, wenn Kolleg:innen sich genau den Vorurteilen entsprechend verhalten.

Was ist Ihre déformation professionelle?

Dass ich in Diskussionen immer anmerke, wenn die Bedeutung des zentralen Begriffs einfach verändert wird, und dadurch die Schlussfolgerung nicht mehr stimmt.

Gibt es philosophischen Fortschritt? Wenn ja, was ist ein gutes Beispiel dafür?

Ja, es gibt philosophischen Fortschritt. Das sind Entwicklungen, die ich für bereichernd und wichtig halten. Die Philosophie bedenkt immer mehr Menschen mit und immer mehr Menschen denken in der Philosophie mit. Eine Facette dieses Fortschritts ist, dass wir ausschließende Aussagen in philosophischen Aufsätzen heute nicht mehr überlesen, sondern kritisieren und korrigieren. Fortschritt in der Philosophie ist auch, dass Alltagsbeispiele dem Alltag näherkommen und echte menschliche Bedürfnisse und Situationen in der Philosophie wieder ernster genommen werden. Besonders gut zeigt sich das in Theorien des Vertrauens und der Vertrauenswürdigkeit. Katherine Hawley betont zum Beispiel, dass Vertrauenswürdigkeit heißt, Verpflichtungen abzusagen, wenn man sie nicht einhalten kann.

Welche philosophische Auffassung/welche Theorie versetzt Sie in Rage?

Fast alle Aussagen von Nietzsche oder Nietzsche-Nachfolger:innen schaffen es mich zu verärgern. Ich kann mittlerweile Nietzsches Beobachtungen dazu, dass Begriffe die Einzigartigkeit von Objekten verdecken, etwas abgewinnen. Aber große nihilistische und skeptizistische Aussagen irritieren mich einfach.

Welches war die beste Literaturempfehlung, die Sie je bekommen haben?

Philosophisch: Maria Lugones’ Aufsatz “Playfulness, ‘World’-Travelling, and Loving Perception”
Literarisch: Column McCann Apeirogon. Zutiefst bewegend und beeindruckend.
Und doch auch Marcel Proust Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Ich weiß: sehr offensichtlich; aber die Szenen auf den letzten Seiten im letzten Band sind die ganzen Längen vorher wert. – Vielleicht ist es auch ein Fall des Stockholm Syndroms bei Romanen.

Wie stehen Sie zu philosophischen Kalendersprüchen?

Finde ich sehr unterhaltsam!

Wäre Philosophie in einer idealen Welt überflüssig?

Überhaupt nicht. Sie wäre die Lieblingstätigkeit aller Menschen.

Was fänden Sie schlimmer: nie wieder schreiben oder nie wieder diskutieren zu können?

Ganz klar: nie wieder diskutieren zu können! Ich fände es sowieso sehr spannend, wenn wir mündliche Kommunikationsformen mehr in die philosophische Arbeit mit einbeziehen könnten. Das, was allgemein Philosophiegeschichte genannt wird, ist durch unsere Fixierung auf Geschriebenes schon sehr stark eingeschränkt und es wäre zu wünschen, dass wir das in unseren Beiträgen zur Philosophie anders gestalten könnten.

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