Was ich noch sagen wollte

PhilPublica stellt vor

Titelbild: Tobias Rosefeldt

Tobias Rosefeldt

Professor für Klassische deutsche Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin

Was ist Ihre erste Erinnerung an einen philosophischen Gedanken?

Ich stehe vor dem großen Einbauschrank im Flur unserer Wohnung in einer Hochhaussiedlung im Münchner Norden. 70er Jahre, Grundschulalter. Ich fahre langsam mit meinem Finger an den cremeweißen Schiebetüren entlang. Plötzlich wie ein Blitz der Gedanke: Der Finger war doch einmal ganz, ganz, ganz genau an dieser einen Stelle; also muss er dann doch ganz, ganz, ganz kurz einmal stillgestanden haben! Aber er hat sich doch die ganze Zeit bewegt! – Ich verkünde das Rätsel meinem Onkel Dieter, der neben mir steht. Dieter, chemisch-technischer Assistent in einem mittelständischen Unternehmen und heimlicher Anhänger des späten Wittgenstein, versteht mich nicht: „Mei, Dein Finger bewegt si hoit“. Ich erinnere mich noch genau an dieses quälende Gefühl: Da ist etwas. Eine ungemein wichtige Einsicht. Aber ich kann sie nicht so ausdrücken, dass man mich versteht.

Woran arbeiten Sie gerade?

An zwei größeren Projekten. Eines zu Kants Begriff der Objektivität. Da ist die Grundidee, dass man verschiedene Sinne von Objektbezug bei Kant unterscheiden muss, um seinen transzendentalen Idealismus und seine Kritik an der rationalistischen Metaphysik zu verstehen. Und eines zu meta-normativen Theorien in der klassischen deutschen Philosophie. Ich möchte eine neue Interpretation von Kants sehr speziellem Verständnis von Autonomie und seinem sehr speziellen Verständnis praktischen Sollens entwickeln und dann zeigen, wie man auf dieser Grundlage Fichtes und Hegels Ideen zu praktischer Normativität besser verstehen kann.

Über welches Thema würden Sie gern einmal schreiben und warum haben Sie es bisher nicht getan?

Das wechselt eigentlich jedes halbe Jahr. Es gibt ja so viele interessante Themen, aber dann immer viel zu viel Literatur, die man gelesen haben müsste, um seriös darüber zu schreiben. Im Moment hätte ich Lust, ein Buch darüber zu schreiben, dass Entscheidungen etwas Schlechtes sind. Entscheidungen haben ja innerhalb und außerhalb der Philosophie eine ziemlich gute Presse. Was gäbe es Wertvolleres, als sich selbst für die Dinge, die einem wichtig sind, entschieden zu haben? Ich selbst habe Situationen, in denen ich mich wirklich zwischen verschiedenen Optionen entscheiden musste, oft als defizitär wahrgenommen. Die Entscheidung ist die „Zufälligkeit, wie sie als Wille ist“, sagt Hegel. Autonomes Wollen sollte ohne die Zufälligkeit und Unentschiedenheit möglich sein, die Entscheidungen nötig machen. Das wäre so in etwa die Idee. Aber ich fürchte, diese Idee würde die erste Runde der Literatursichtung, zu der ich ohnehin keine Zeit habe, nicht überleben. Also wird sie vermutlich nur ein weiterer Eintrag in der Datei mit Titeln ungeschriebener Aufsätze und Bücher bleiben.

Was können wir aus der Philosophiegeschichte lernen?

Ach, so unendlich viel. Wenn man sich selbst mit der Philosophiegeschichte beschäftigt, stellt sich die abstrakte Frage danach, warum das sinnvoll ist, sehr bald nicht mehr. So groß ist der Reichtum, dem man da begegnet – vielleicht nicht immer von Lösungen zeitloser Probleme, aber ein Reichtum an Fragen, Ideen und Methoden, von denen die meisten nicht zu Ende gedacht und verstanden sind. Es gibt deswegen immer ungemein viel zu tun für den philosophisch wachen Geist. Und auch einiges zu lernen für die außerphilosophische Welt. Wie viel staatliche Regulierung man z. B. mit Kant, Fichte und Hegel aus dem Gedanken der Verwirklichung von Freiheit ableiten kann, könnte sich die heutige FDP durchaus mal durch den Kopf gehen lassen.
Die Beschäftigung mit ihrer Geschichte ist für die Philosophie selbst jedenfalls auf eine andere Weise wichtig, als das in anderen Disziplinen der Fall ist. Das scheint mir unbestreitbar, und es zu bezweifeln ein Zeichen von Ignoranz.

Und warum genau ist das so?

Das frage ich mich auch immer wieder. Eine vollständig überzeugende Antwort ist mir bislang noch nicht eingefallen. Aber das wäre ja eigentlich ein interessantes Buchprojekt...

Was fänden Sie schlimmer: nie wieder schreiben oder nie wieder diskutieren zu können?

Die Option „nie wieder Emails bekommen“ gibt es nicht? – O.K., dann würde ich wohl lieber auf das Diskutieren verzichten, so schlimm es auch wäre. Aber das seltene Gefühl der Befriedigung darüber, einen Gedanken so zu Papier gebracht zu haben, dass er – zumindest mir selbst – durchsichtig und verständlich geworden ist, ist für mich eine noch größere Quelle von Glück. Allerdings würde ich ohne Diskussion mit anderen wohl bald keine Gedanken mehr haben, die es zu Papier zu bringen gibt.

Fühlen Sie sich unter anderen Philosoph:innen besonders wohl?

Ein klares Ja. Auch wenn das überheblich klingen mag – ich finde, dass Philosoph:innen überdurchschnittlich häufig sehr nette und lebenskluge Menschen sind. Nicht selten sind sie bezaubernde und oft ganz eigentümliche Wesen, mit denen man originell und subtil über alles Mögliche auch außerhalb der Philosophie reden kann. Selbst eine Diskussion über die gerechte Verteilung von familiären Pflichten erreicht da schnell ein schwindelerregendes theoretisches Niveau.

Könnten Sie jemanden küssen, der Philosophen für Schwätzer hält?

Die rechten Trolle auf Twitter, die Philosophen für Schwätzer halten und die Geisteswissenschaften am liebsten ganz abschaffen würden, würde ich gerne so küssen wie der hübsche Franzose die zeternde Nachbarin an der Hecke in der Gauloises-Reklame meiner Jugend. „Hallo. Ich bin Henri. Ich bin Ihr neuer Nachbar. – Liberté toujours!“

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