Was ich noch sagen woll­te

Phil­Pu­bli­ca stellt vor

Titelbild: Heiner Hastedt

Hei­ner Ha­stedt

Pro­fes­sor für Prak­ti­sche Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät Ros­tock  

Was war Ihr ers­ter Kon­takt mit der Phi­lo­so­phie?

Nach­träg­lich sti­li­siert war der Um­stand, dass ich als Früh­ge­burt auf die Welt kam, eine wich­ti­ge Dis­po­si­ti­on zur Phi­lo­so­phie. Von An­fang an konn­te ich als Junge nicht mit Kör­per­stär­ke punk­ten und er­leb­te dies als Di­stanz zu Gleich­alt­ri­gen, was ich – aus­weis­lich frü­her Fotos – mit Nach­denk­lich­keit kom­pen­sier­te. Ge­stei­gert in der Pu­ber­tät war dann der Weg zum Phi­lo­so­phie­stu­di­um kurz– zu­nächst ein­sei­tig aus­ge­legt als Form der exis­ten­ti­el­len Selbst­ver­stän­di­gung.

Woran ar­bei­ten Sie ge­ra­de?

Im Kon­text der lang­jäh­ri­gen För­de­rung eines in­ter­dis­zi­pli­nä­ren DFG-​Graduiertenkollegs zur „Deu­tungs­macht“ ver­su­che ich seit ei­ni­ger Zeit, Deu­tungs­macht an­wen­dungs­ori­en­tiert zu er­schlie­ßen – nach grund­satz­ori­en­tier­ten und auch zeit­dia­gnos­ti­schen Klä­run­gen zu Wahr­heit, Macht und Re­fle­xi­on. Der Band zur „Macht der Kor­rup­ti­on“ ist be­reits er­schie­nen; als nächs­tes steht die „Deu­tungs­macht der Öko­no­mie“ auf mei­ner To-​do-Liste. Wenn die ge­gen­wär­ti­ge Corona-​Krise nicht schon unter Über­the­ma­ti­sie­rung litte, wäre auch hier­zu eine Un­ter­su­chung zur Deu­tungs­macht von Vi­ro­lo­gen und – ganz an­ders aus­ge­rich­tet – ver­schwö­rungs­theo­re­ti­schen Corona-​Leugnern an­ge­bracht.

Was kön­nen wir aus der Phi­lo­so­phie­ge­schich­te ler­nen?

Zu Be­ginn mei­nes Stu­di­ums in Göt­tin­gen und Ham­burg um 1980 lern­te ich die aka­de­mi­sche Phi­lo­so­phie­ge­schich­te in Mas­sense­mi­na­ren ken­nen, in denen wir mit gro­ßem Tief­sinn bei ge­rin­ger Klar­heit ge­le­gent­lich über die ers­ten Sei­ten eines Klas­si­kers nicht hin­aus­ka­men. Vor die­sem Hin­ter­grund war die Kri­tik der „her­me­neu­ti­schen Krank­heit“ und die zu­pa­cken­de  Pro­blem­ori­en­tie­rung von Her­bert Schnä­del­bach eine Be­frei­ungs­er­fah­rung. Ich lern­te eine ana­ly­ti­sche Phi­lo­so­phie schät­zen, die auf Re­le­vanz ach­tet. Heute, vier­zig Jahre spä­ter, in der die Phi­lo­so­phie­ge­schich­te in Deutsch­land nach ihrer alten Do­mi­nanz mar­gi­na­li­siert wor­den ist, keimt bei mir an­ge­sichts einer sich ge­sell­schaft­lich aus­brei­ten­den Ver­nach­läs­si­gung des his­to­ri­schen Ge­spürs wie­der die Sehn­sucht nach mehr Phi­lo­so­phie­ge­schich­te. Be­glü­cken­de Uni­ver­si­täts­se­mi­na­re mit Ganz­tex­ten wie die von Adam Smith (Theo­rie der ethi­schen Ge­füh­le), Georg Wil­helm Fried­rich Hegel (Grund­li­ni­en der Phi­lo­so­phie des Rechts) und Mi­chel Fou­cault (Ge­schich­te der Gou­ver­ne­men­ta­li­tät zur „Ge­burt der Bio­po­li­tik“) führ­ten zu der Ein­sicht, dass in einer immer stär­ker in­ter­dis­zi­pli­när en­ga­gier­ten Phi­lo­so­phie die phi­lo­so­phie­ge­schicht­li­che Ver­ge­wis­se­rung die ar­gu­ment­ori­en­tier­te Iden­ti­tät un­se­res Fa­ches stärkt. Die Be­schäf­ti­gung mit Ge­schich­te er­wei­tert den Ho­ri­zont und re­la­ti­viert ge­gen­wär­ti­ge Vor­lie­ben, so dass sie an­re­gen­der sein dürf­te, als dies der x-te De­bat­ten­bei­trag zu Stan­dard­the­men aus einer in­ter­na­tio­na­len Zeit­schrift je sein kann.

Ist es immer gut, ver­nünf­tig zu sein?

Schon Im­ma­nu­el Kant be­schrieb – was bei ihm als Ver­nunft­phi­lo­so­phen viel­leicht über­rascht – den Men­schen als „krum­mes Holz“. Immer ver­nünf­tig zu sein, ist auch in der Phi­lo­so­phie weder mög­lich noch wün­schens­wert. Ohne Ge­füh­le mit ihrer In­vol­viert­heit er­mög­li­chen­den Wich­tig­keits­be­set­zung wären wir nicht ver­nünf­tig, son­dern un­mensch­lich. 

Soll man glau­ben, was die Mehr­heit glaubt?

Schon John Stuart Mill be­klag­te eine „Ty­ran­nei der Mehr­heit“, was als Dia­gno­se im Deutsch­land des Jah­res 1933 mehr als be­stä­tigt wurde. Als äu­ßer­li­che Form der Ent­schei­dungs­fin­dung ist die De­mo­kra­tie eine wich­ti­ge Er­run­gen­schaft der Zi­vi­li­sa­ti­on, die aber nicht als Er­satz für das Selbst­den­ken fun­gie­ren darf. Menschen-​ und Bür­ger­rech­te sind mit de­mo­kra­ti­schen Mehr­hei­ten nicht le­gi­ti­mer­wei­se ab­schaff­bar und eine offen ge­stal­te­te Par­ti­zi­pa­ti­ons­mög­lich­keit aller ist wich­ti­ger als das bloße Ab­stim­men. 

Könn­ten Sie je­man­den küs­sen, der Phi­lo­so­phen für Schwät­zer hält?

Ja, ver­mut­lich schon wegen des Wi­der­strei­tes – be­son­ders wenn sie es be­grün­den kann und sich so in­di­rekt selbst als Phi­lo­so­phin er­weist. 
 

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