Was ich noch sagen woll­te

Phil­Pu­bli­ca stellt vor

Titelbild: Catrin Misselhorn

Ca­trin Mis­sel­horn

Pro­fes­so­rin für Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät Göt­tin­gen

Was ist Ihre erste Er­in­ne­rung an einen phi­lo­so­phi­schen Ge­dan­ken?

Mit etwa drei oder vier Jah­ren bin ich ein­mal an einem lauen Som­mer­abend heim­lich aus mei­nem Git­ter­bett ge­stie­gen und aus der Tür un­se­res Hau­ses auf die Stra­ße ge­gan­gen, wäh­rend ich die Er­wach­se­nen im Wohn­zim­mer reden hörte. Auf­re­gend und neu er­schien mir der Ge­dan­ke, dass ich ein­fach ir­gend­wo hin­ge­hen kann, ohne dass ir­gend­je­mand mich dabei be­ob­ach­tet oder davon weiß. Darin sind zwei phi­lo­so­phi­sche Fra­gen an­ge­legt, die mich bis heute be­schäf­ti­gen: der Un­ter­schied zwi­schen Sein und Er­ken­nen und das Ver­hält­nis von Selbst und an­de­ren.

Woran ar­bei­ten Sie ge­ra­de?

Ich habe so­eben ein Buch zum Thema „Künst­li­che In­tel­li­genz – das Ende der Kunst?“ ver­öf­fent­licht. Mich treibt um, dass Künst­li­che In­tel­li­genz in immer neue Be­rei­che vor­dringt, die auf den ers­ten Blick immun gegen jede Form der Au­to­ma­ti­sie­rung wir­ken. Dazu ge­hört eben auch die Kunst. Im Vor­der­grund steht die ge­ne­ra­ti­ve KI-​Kunst, mit der der An­spruch ver­bun­den ist, die künst­le­ri­sche Leis­tung sei auf KI zu­rück­zu­füh­ren. Am Ende stel­le ich mir die Frage, was das für die Zu­kunft der Kunst zu be­deu­ten hat.

Wel­cher phi­lo­so­phi­sche Text hat Ihr Leben ver­än­dert?

Pla­tons Dia­lo­ge. In mei­ner Schul­zeit hatte ich Pla­ton als Ver­tre­ter der Ideen­leh­re ken­nen ge­lernt, die mir da­mals auf einer Ebene mit My­then und re­li­giö­sen Er­zäh­lun­gen zu ste­hen schien. Wäh­rend des Stu­di­ums habe ich zum ers­ten Mal be­grif­fen, wie stark Pla­tons An­spruch war, seine The­sen auch ra­tio­nal zu be­grün­den. Dar­über hin­aus war ich fas­zi­niert von der Ernst­haf­tig­keit, mit der der pla­to­ni­sche So­kra­tes das phi­lo­so­phi­sche Ethos, nur der Wahr­heit zu fol­gen, in den frü­hen Dia­lo­gen ver­kör­pert. Zu­gleich wi­der­leg­te Pla­ton jedes Kli­schee, Phi­lo­so­phie sei le­bens­fern oder gar le­bens­feind­lich. Er schafft es, all das unter einen Hut zu brin­gen, weil sich in sei­nen Dia­lo­gen li­te­ra­ri­sche Form und phi­lo­so­phi­sche Re­fle­xi­on auf ein­zig­ar­ti­ge Art und Weise durch­drin­gen. Erst durch die Aus­ein­an­der­set­zung mit Pla­ton habe ich wirk­lich er­fah­ren, was Phi­lo­so­phie sein kann.

Wel­che/r Phi­lo­soph/in soll­te mehr ge­le­sen wer­den?

Ro­bert Musil, vor allem sein „Mann ohne Ei­gen­schaf­ten.“ Er hat eine gänz­lich neue Po­si­ti­on im phi­lo­so­phi­schen Raum auf­ge­tan, die ich als „na­tu­ra­li­sier­te Ro­man­tik“ be­zeich­ne. Er ist skep­tisch ge­gen­über der Mög­lich­keit ge­nu­in phi­lo­so­phi­scher Er­kennt­nis und ver­tritt eine na­tu­ra­lis­ti­sche Po­si­ti­on. Zu­gleich sieht er ein, dass es Fra­gen gibt, die ra­tio­nal un­ab­weis­bar sind, aber nicht mit den Mit­teln der Na­tur­wis­sen­schaf­ten be­ant­wor­tet wer­den kön­nen. Sei­ner An­sicht nach las­sen sich diese Fra­gen nur in einer (so­wohl phi­lo­so­phisch als auch mathematisch-​naturwissenschaftlich in­for­mier­ten) Li­te­ra­tur be­han­deln. Ne­ben­bei hat er in die­ser Form auch ein ziem­lich be­ein­dru­cken­des frü­hes Ar­gu­ment gegen die Mög­lich­keit star­ker künst­li­cher In­tel­li­genz for­mu­liert.
Ob­wohl der Roman fast hun­dert Jahre alt ist, hat man den Ein­druck, Musil schrie­be über die ge­gen­wär­ti­ge Welt­la­ge, in der das vom ihm dia­gnos­ti­zier­te Be­dürf­nis nach „me­ta­phy­si­schem Krach“ ein­mal mehr über­hand­nimmt.

Wel­cher Ihrer Texte liegt Ihnen be­son­ders am Her­zen?

Mein Buch über Künst­li­che In­tel­li­genz und Kunst, weil ich mich darin am in­ten­sivs­ten mit Künst­li­cher In­tel­li­genz nicht nur im Sinn einer „Phi­lo­so­phie der ...“ aus­ein­an­der­set­ze, son­dern sie als phi­lo­so­phi­sches In­stru­ment ver­wen­de, das wie ein Brenn­glas den spe­zi­fisch mensch­li­chen Fak­tor in der Kunst schär­fer her­vor­tre­ten lässt. Vor die­sem Hin­ter­grund muss­te ich auch ei­ni­ge mei­ner ei­ge­nen Po­si­tio­nen re­vi­die­ren, etwa zum Thema Au­tor­schaft. Das Buch zu schrei­ben, war des­halb für mich auch ein span­nen­der Pro­zess der Selbst­re­fle­xi­on.

Was wür­den Sie gern bes­ser kön­nen?

Etwas, das ich an an­de­ren be­wun­de­re: phi­lo­so­phi­sche Fra­gen in li­te­ra­ri­scher Form zu re­flek­tie­ren.

Warum schrei­ben Sie für die au­ßer­aka­de­mi­sche Öf­fent­lich­keit?

Weil ich finde, dass Ge­sichts­punk­te wie Mensch­lich­keit und Ge­rech­tig­keit, aber auch Wahr­heit und Ver­ant­wort­lich­keit für die Welt, in der wir leben, phi­lo­so­phisch re­flek­tier­te Für­spre­cher*innen im öf­fent­li­chen Dis­kurs be­nö­ti­gen, damit nicht nur macht­stra­te­gi­sche und öko­no­mi­sche Er­wä­gun­gen Gehör fin­den.

Wel­che Musik soll auf Ihrer Be­er­di­gung ge­spielt wer­den?

Es wäre schön, wenn der Chor, in dem ich mit gro­ßer Freu­de singe, bei mei­ner Be­er­di­gung sin­gen würde.

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