Was ich noch sagen woll­te

Phil­Pu­bli­ca stellt vor

Titelbild: Philipp Hübl

Phil­ipp Hübl

Gast­pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät der Küns­te Ber­lin und Pu­bli­zist

Woran ar­bei­ten Sie ge­ra­de?

An den The­men mei­nes ge­ra­de er­schie­ne­nen Buchs „Mo­ral­spek­ta­kel“, in dem ich eine Sta­tus­theo­rie der Moral ver­tre­te. Der so­zia­le Sta­tus, den man über Pres­ti­ge oder Do­mi­nanz er­wer­ben kann, ist nicht nur ein ak­tu­el­les Thema in der So­zio­lo­gie und Psy­cho­lo­gie, son­dern auch in der evo­lu­tio­nä­ren An­thro­po­lo­gie. In allen drei Dis­zi­pli­nen fin­den sich ähn­li­che Über­le­gun­gen, auch wenn sie sich im Vo­ka­bu­lar un­ter­schei­den. Die em­pi­ri­sche For­schung legt nahe, dass unser teils an­ge­bo­re­ner und teils kul­tu­rell ge­form­ter Mo­ral­in­stinkt das „krum­me Holz“ ist, aus dem wir Kant zu­fol­ge ge­macht sind. Wir kön­nen nichts „ganz Ge­ra­des“ dar­aus zim­mern, weil seine Grund­la­gen in der Evo­lu­ti­on nicht ent­stan­den sind, um glo­ba­le Ge­rech­tig­keits­pro­ble­me zu lösen, son­dern um in der Grup­pe zu ko­ope­rie­ren und für po­ten­ti­el­le Part­ner at­trak­tiv zu sein.

Durch die un­spek­ta­ku­lä­re Ein­sicht, dass auch mo­ra­li­sches Den­ken unter Evo­lu­ti­ons­druck ent­stan­den ist, wird Moral noch nicht zum Spek­ta­kel. Wie er­klärt sich der Titel des Buchs?

Zum Spek­ta­kel wird Moral ins­be­son­de­re in den so­zia­len Me­di­en, weil dort mo­ra­li­sche Be­grif­fe und Ur­tei­le sel­ten ein­ge­setzt wer­den, um ge­sell­schaft­li­che Miss­stän­de zu kri­ti­sie­ren. Viel häu­fi­ger die­nen sie für zwei an­de­re so­zia­le Funk­tio­nen: als Sym­bo­le für Sta­tus und Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit oder sogar als Waf­fen, um Macht und Ein­fluss aus­zu­üben oder sich gegen An­grif­fe und Druck von an­de­ren zu ver­tei­di­gen. Fast alle um­strit­te­nen Phä­no­me­ne der di­gi­ta­len Öf­fent­lich­keit er­schei­nen in einem neuen Licht, wenn man sie als Züge in einem mo­ra­li­schen Sta­tus­spiel be­greift.

Was ist Ihre phi­lo­so­phi­sche Lieb­lings­an­ek­do­te?

Vor über 20 Jah­ren habe ich ein Se­mi­nar zu Be­grif­fen bei Jerry Fodor in Rut­gers im Bun­des­staat New Jer­sey be­sucht. Ein­mal hatte Fodor sei­nen Gür­tel ver­ges­sen, wo­durch die Jeans ge­fähr­lich lo­cker auf sei­nem durch­aus statt­li­chen Bauch saß. Nach­dem er etwas an die Tafel ge­schrie­ben hatte, dreh­te er sich wie­der zu den Teil­neh­mern um. Dabei rut­sche ihm die Jeans bis zu den Knien her­un­ter, und er stand mit wei­ßer Un­ter­ho­se vor der Klas­se. Jedem an­de­rem wäre das pein­lich ge­we­sen. Doch Fodor er­rö­te­te nicht und un­ter­brach auch nicht sei­nen Vor­trag. Statt­des­sen zog er in aller See­len­ru­he seine Hose hoch und sprach wei­ter, also sei nichts ge­sche­hen. Wenn ihm die Phi­lo­so­phie dabei ge­hol­fen hat, so ge­las­sen zu sein, dann hat sich das viele Nach­den­ken je­den­falls aus­ge­zahlt.

Ihr Le­bens­mot­to?

Als be­ken­nen­der Mar­xist (Groucho, nicht Karl) lebe ich nach dem Prin­zip: „Ich will nicht zu einem Club ge­hö­ren, der Leute wie mich auf­nimmt.“ Frü­her habe ich das mit einem Au­gen­zwin­kern ge­sagt. Seit ich die em­pi­ri­sche For­schung zum „mys­i­de bias“ kenne, meine ich es ernst, denn die zeigt, dass wir zu iden­ti­täts­schüt­zen­den Denk­feh­lern nei­gen, so­bald wir uns einer Grup­pe zu­ord­nen. Weil man in der Phi­lo­so­phie bei „per­so­na­ler Iden­ti­tät“ in der Tra­di­ti­on von Locke zu­nächst an die Rolle des Be­wusst­seins oder an au­to­bio­gra­phi­sche Er­in­ne­run­gen denkt, ist das „moral self“, die mo­ra­li­sche Iden­ti­tät, bis­her wenig un­ter­sucht.

Soll­ten Phi­lo­so­phen nicht iden­ti­täts­schüt­zen­den Denk­feh­lern ent­ge­gen­wir­ken?

Das soll­ten sie, aber fak­tisch nei­gen selbst Phi­lo­so­phen zu Iden­ti­täts­schutz, mit teils er­staun­li­chen Fol­gen: In einer (im­mer­hin nicht re­prä­sen­ta­ti­ven) Um­fra­ge unter fast 800 in­ter­na­tio­na­len Fach­leu­ten gaben zwi­schen 30 und 50 Pro­zent der pro­gres­si­ven Kol­le­gen an, sie wären be­reit, aktiv Ver­tre­ter des an­de­ren po­li­ti­schen La­gers zu dis­kri­mi­nie­ren, etwa bei der Stel­len­ver­ga­be oder bei der Be­gut­ach­tung von Auf­sät­zen (Pe­ters et al. 2020). Bis­her ist nicht ab­schlie­ßend ge­klärt, wie man dem iden­ti­täts­schüt­zen­den Den­ken ent­ge­gen­wir­ken kann, das nicht nur bei po­li­ti­schen La­ger­kämp­fen eine Rolle spielt, son­dern auch auf die Ein­schät­zung von Fak­ten und Ar­gu­men­ten aus­wirkt: epis­te­mi­sche Be­schei­den­heit hilft und na­tür­lich die Dis­kus­si­on mit an­de­ren. Ich ver­mu­te je­den­falls, dass auch lei­den­schaft­li­cher Groucho-​Marxismus ein po­si­ti­ver Fak­tor ist.

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