Was ich noch sagen wollte

PhilPublica stellt vor

Titelbild: Stefan Riedener

Stefan Riedener

Oberassistent am Philosophischen Seminar der Universität Zürich  

Was ist Ihre erste Erinnerung an einen philosophischen Gedanken? 

Ich saß im Kleinbus der Junioren-Fußballmannschaft: auf dem Heimweg von einem Spiel, ein Schreien und Johlen im ganzen Fahrzeug. Und ich war versunken in Gedanken über das Ich. Plötzlich hatte ich eine Art Erleuchtungsgefühl. Aber die Erleuchtung bestand nicht darin, die Natur des Ichs zu begreifen, sondern darin, zu sehen, wie unbegreiflich das Ich eigentlich ist. Dieses Platonische Staunen währte nur kurz: Schon nach wenigen Augenblicken war mir nicht mehr klar, warum das Ich so rätselhaft sein soll. Ich habe es bis heute nicht wieder herausgefunden.

Was ist Ihr Lieblingszitat? 

Joseph Butler sagt in der Einleitung zu seinen Sermons: “Every thing is what it is, and not another thing.” Das fand ich immer irgendwie tröstlich. Die Dinge sind, wie sie sind. Sie liegen da, zum Erkennen bereit. Du brauchst nur zu schauen und zu beschreiben. Gleichzeitig ist dieses Versprechen einer klaren Welt auf fiese Weise frustrierend. Wir wissen ja eben noch nicht, wie die Dinge liegen. Und das tautologische Wissen – dass sie so sind, wie sie sind – hilft uns letztlich überhaupt nicht.

Was würden Sie gern besser können? 

Ich würde mich gerne besser konzentrieren können: auch nur einen einzigen Vormittag lang wirklich bei der Sache bleiben, bei der ich gerade bin!

Was ist Ihre déformation professionnelle? 

Ich bin vielleicht nicht zu einer flammenden Überzeugung fähig. Ich denke letztlich meistens nur „Ja, aber –“.

Warum ist Philosophie so kompliziert? 

Das ist recht komplex. Es würde leider zu weit führen, dies hier zu erläutern.

Hilft Expertise in Ethik, ein besserer Mensch zu werden? 

Ich glaube, es kann helfen. Aber es hilft gewiss nicht notwendigerweise. Mindestens kann man heute bestimmt eine extrem erfolgreiche akademische Ethikerin sein und dabei kein besonders guter Mensch. Mich interessiert die Frage: Wie würde eine akademische Ethik aussehen, wo das anders wäre – wo wahre und gelebte Weisheit eine Bedingung oder notwendige Folge eines Lebens in der Akademie darstellte? 

Soll man glauben, was die Mehrheit glaubt? 

Ich glaube, das ist ein schmaler Grat. Einerseits hat die Mehrheit bestimmt nicht immer recht. Sie lag in der Vergangenheit oft haarsträubend falsch und irrt sich sicher in vielen Dingen auch heute. Andererseits sollten wir uns auch nicht anmaßen, den althergebrachten gesunden Menschenverstand allzu schnell abzutun – und allzu oft als kleine Philosöphlein gegen den Rest der Menschheit zu behaupten, wir wüssten es besser. Je älter ich werde, desto mehr versuche ich erst einmal, von der auch in mir tief verwurzelten Mehrheitsmeinung und Lebens- und Erfahrungsform auszugehen: erst einmal zu verstehen, was diese eigentlich ist, und wie man sie begründen könnte. Erst wenn das nicht gelingt, gebe ich sie auf.

Welche philosophische Auffassung, von der Sie einmal überzeugt waren, haben Sie aufgegeben? 

Ich war einmal vom Utilitarismus überzeugt. Das bin ich nicht mehr. Und diese Veränderung hängt mit meiner Antwort auf die vorherige Frage zusammen. Der Utilitarismus widerspricht eben allzu radikal dem, was wir alle eigentlich empfinden und leben. Er bleibt damit eine Art leere Theorie, die mir zu fremd ist – die mir letztlich gar nichts gibt.

Welchen Gegenstand, der nicht dem physischen Überleben dient, würden Sie mit auf die Robinsoninsel nehmen?

Gibt es asphaltierte Straßen auf der Insel? Dann nehme ich mein Rennvelo mit.
 

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